neodoxon - die geschichte findet nicht statt

Die Suche nach dem einen Punkt in der Zeit.

Rod Andriz, Juli 2001

Der Fremde legte eine Art Schlüssel vor mir auf den Tisch.

"Dies ist ein Zeitschlüssel. Wenn Sie diesen Schlüssel in die Hand nehmen, konzentrieren Sie sich auf ein Datum und der Schlüssel bringt sie dorthin und - nach sechsunddreissig Stunden - wieder zurück."

Ich starrte gebannt auf das eckige Stück Metall.

Ich glaubte dem Fremden - schliesslich hatte ich ihn vor kaum vier Stunden aus einem brennenden UFO gerettet.

"Der Schlüssel," fuhr der Fremde fort, "wird nur ein einziges Mal funktionieren. Und denken sie gut über die Konsequenzen ihrer Zeitreise nach. Jede Handlung bewirkt eine Veränderung der Zeitlinie - gute Absichten können so schlimmste Folgen haben."

Eine Pause. Ich wusste einfach nicht was ich sagen sollte. Dann doch eine Frage.

"Wie wird unsere Zukunft?"

"Sie wird gut." antwortete der Fremde mit einem sanften Lächeln. Bevor er mein Haus verliess, drehte er sich noch einmal um. "Danke."

Ein einziges Wort. Dann war der Fremde weg.

Ich starrte auf den Schlüssel.

Es war der 14. Dezember 1969. Ich war neun Jahre alt.

*

Ich starrte auf den Schlüssel. Ich hatte ihn in Kunstharz gegossen, um ihn zu schützen. Fast jeden Abend verbrachte ich damit, die eine Chance, die mir der Fremde gegeben hatte, richtig einzuschätzen.

Sollte ich in das Jahr 1920 zurück reisen um Hitler einen Job als Maler in Wien zu verschaffen? Dann würde er vielleicht nicht durchdrehen und Feuer über Europa säen.

Sollte ich die Geheimnisse der modernen Medizin in das römische Reich tragen? Oder gar die Grundlagen der Chemie? Schiesspulver gegen die Wandalen, um Rom zu schützen? Oder sollte ich gar Rom vernichten bevor es in Korruption und Dekadenz versank?

Es war der 23. November 1980. Und ich war ratlos.

*

Erschöpft klappte ich den schweren Wälzer zu. Zum sicherlich einhunderttausendsten Male fiel mein Blick auf den Schlüssel, der mittlerweile seinen Platz auf meinem Fernsehgerät gefunden hatte.

Die Frage nach dem richtigen Zeitpunkt, nach dem einen Ereignis das die Geschichte der Menschheit zum Besten wenden konnte, hatte Besitz von meinem Leben ergriffen. Ich hatte mein Abitur nachgeholt und angefangen Geschichte, Philosophie und Mathematik zu studieren. Mein Ehrgeiz, meine Hingabe für hochkomplexe Zusammenhänge zu erkennen und analysieren, hatte mir rasch die Aufmerksamkeit einiger Dozenten zuteil werden lassen.

Es war der 31. August 1985.

Ich hatte noch genug Zeit.

*

Im Prinzip wusste ich ja, dass die Zukunft "gut" werden würde - sofern ich dem Fremden glaubte. Und das tat ich. Keinen Augenblick hatte ich an ihm gezweifelt.

Die UdSSR schlitterten in Afghanistan in ein Desaster, in ihr eigenes Vietnam. Ich hatte in einigen Zeitungen vielbeachtete Artikel über die Unausweichlichkeit des Zusammenbruches des Ostblocks veröffentlicht. Doch das Urteil der Experten war einhellig: Meine Schriften waren blanker Unsinn.

Es war mir egal. Ich hatte das eine Ziel

Nur - all die viele Geschichte, die ich in mich aufgesogen hatte, bewies eines: Das Pendel schlug in beide Richtungen. Kein positives Eingreifen blieb ohne negative Folgen. Nur - wo erzielte man den höchsten Gewinn mit dem geringsten Verlust?

Die Sowjetunion, Europa, die Welt befand sich in einer Art Umbruch. Sosehr ich darüber nachdachte die Geschichte zu verändern wurde ich doch gewahr, dass ich mitten drin war in Geschichte, hier, heute, jetzt gerade.

Es war der 14. Mai 1986. Ich war 26 Jahre alt, hatte mein Geschichtsstudium mit Bestnote abgeschlossen.

Ich blieb an der Universität - sie war der beste Ort meine Studien fortzuführen.

*

"...kann die Eskalation des Vietnam Konfliktes nur verhindert werden, indem dem Präsidenten spätestens im November 1964 überzeugendes Material vorgelegt wird, welches ihm beweist - und zwar zweifelsfrei - in welche Katastrophe er sein Land stürzt. Man müsste ihn also in die Zukunft 'einweihen'."

Ich seufzte. Natürlich hatte der junge Student recht. Ich hatte, obwohl es nicht mein Fach war, einen Kurs für "alternative Geschichte" im Institut für Politik ins Leben gerufen. Wenn mir schon nichts einfiel, warum sollte ich nicht ein paar rege Geister für mich Denken lassen?

Ich hatte mit einen guten Ruf erarbeitet - Washington Post, Times, Spiegel und Hürryet druckten regelmässig meine Essays und Abhandlungen, bei politischen Diskussionen war ich gern gesehender Gast - egal bei welcher Partei, egal in welchem Land. Meine "Prophezeiungen" bezüglich des Zusammenbruches der Ostblock-Wirtschaft hatte mich darüber hinaus bekannt werden lassen - sogar die Boulevard-Magazine zitierte gerne aus meinen Reden.

Im Grunde war mir das egal.

Mein Ziel war ein anderes.

Der Schlüssel schien mich vorwurfsvoll anzublicken, mich anklagend, ihn nicht angemessen einzusetzen.

Es war der 3. April 1994.

*

Es gab diese Momente, in denen mich die Unerreichbarkeit meines Zieles in einen Zustand tiefer geistiger Erschöpfung fallen liess. Dabei war es mir, als wenn mich der Schlüssel höhnisch anblicken würde.

"Du schaffst es nicht weil Du nicht daran glaubst" schien er mir zu sagen.

Schien.

Natürlich sagte der Schlüssel überhaupt nichts - die Anklage war meine ureigene - ich war nahe daran zu kapitulieren.

Und das Schlimmste daran war die Ungewissheit ob die Kapitulation nicht vielleicht sogar der richtige Weg war.

Ich wandte mich meiner Post zu. Ailyah, meine Sekretärin, sortierte die üblichen Beifallsbekundungen aus, dennoch wurde der Stapel Briefe, die einer Antwort harrten, täglich höher.

Was ich sagte, was ich zu sagen hatte, es kam an bei den Menschen. Seltsam - waren es doch nur die Lehren, zu denen jeder kommen konnte der sich mit der Geschichte der Menschen beschäftigte.

Nun, ich hatte bekanntlich meinen eigenen Weg, mich mit Geschichte zu befassen.

Meinen eigenen Grund.

"Du schaffst es nicht weil Du nicht daran glaubst"

Es war der 16. Juli 2001. Ich würde noch einmal in meine Mailbox schauen - meine Internetseite für alternative Szenarien hatte regen Anklang gefunden - eine Quelle zwar für Inspirationen - jedoch nicht für Antworten.

*

"Sie müssen einfach kandidieren."

"Zwölf Menschen sitzen in meinem Büro." Ich sprach meine Gedanken laut aus, eine Angewohnheit, die ich mir erst in den letzten Jahren zugelegt hatte. Ich hatte gemerkt das mir die Leute besser zuhörten wenn sie dachten dass das Gesprochene eigentlich nicht für ihre Ohren bestimmt war. "Zwölf Menschen, die politische Elite des neuen Europas. Und diese zwölf Menschen sind derart an die Grenzen des Machbaren gestossen, das sie einen Kauz wie mich brauchen?"

"Es ist nicht der Kauz, den wir brauchen," antwortete Russo. "Wir brauchen den Europäer, den Menschen den alle unsere Bürger respektieren."

"Sie benötigen ein Aushängeschild, das Ihnen etwas mehr Zeit verschafft." Das Schweigen war Antwort genug.

Die neue, erweiterte Europäische Union hatte so viele Probleme, dass man, wenn sie eines Tages jemand in Scheisse verwandeln könnte, damit alle Felder dieser Erde düngen müsste um sie wegzuschaffen. Die grosse Reform, die Verschweissung der europäischen Völker, Nationen, Kulturen, hatte die dringend notwendigen "kleinen" Reformen so lange nach hinten geschoben, bis es fast zu spät war. Während sich Japan und China immer heftigere Schlachten lieferte und sich die USA in ihrer neugewählten Isolation selbst beweihräucherten, sassen also die zwölf Europaminister in meinem Büro und erwarteten von mir ein Wunder.

Es war der 14. Juni 2011. Ich war so müde.

Wann sollte ich mich um den Schlüssel kümmern?

*

"Herr Generalsekretär?"

Ich trennte mich nur zu gerne vom Bericht "Neue Konzepte der Energiegewinnung aus Meeresströmen".

"Ja, Janeta?"

"Die japanische Delegation wartet."

Die Japaner. Morgen die Chinesen. Beide Länder hatten ihr wirtschaftliches Potential, ihren Wohlstand, ihre Zukunft eingetauscht gegen einen Jahrzehntelangen Konflikt, ausgefochten zwischen den beiden Staaten wie auch auf den Rücken der Vasallen Taiwan, Vietnam, Laos, Indonesien. Korea hatte versucht seine eigenen Karten auszuspielen - mit etwas Glück würden sie in dreihundert Jahren die Radioaktivität in ihrem Land so gesenkt haben, dass die Arbeiter nicht mehr im Dunkeln leuchteten.

Willkommen in den Armen der Vereinigten Völker.

Dem Zusammenschluss von 67 Nationen - inklusive den paar Afrikanern, die AIDS und NES überlebt hatten.

Wo hatte ich nur den Schlüssel gelassen? Ach ja... auf der Fensterbank.

Ich war so damit beschäftigt Geschichte zu schreiben das ich die Möglichkeit, Geschichte nachträglich zu beeinflussen fast vergessen hatte.

Ich wurde alt.

Heute schrieben wir den 2. Juni 2026. Es war mein 66. Geburtstag.

*

"Was beschwert sich der Mob eigentlich!" Gerard zog vorsichtig den schweren Vorhang beiseite und begutachtete ein paar Dutzend Demonstranten, die mit Trillerpfeifen bewaffnet vor der Residenz ihre Runden drehten, Plakate schwenkend mit Aufschriften wie "Erhaltet die Sahara!", "Die Wüste lebt!". Besonders gefiel mir der Slogan "Sarah für Sahara".

Das Lebens-Projekt war ein Jahrhundertwerk - die Urbarmachung von sieben Millionen Quadratkilometer Wüste in Nordafrika, Arabien und Australien.

Natürlich gab es die Kehrseite - ich wusste es am Besten. Es gab immer eine Kehrseite.

Immer.

Unvermeidbar.

Nichts Gutes ohne etwas schlechtes.

Einige Tausend Skorpione, Wüstenspringmäuse und Kamele würde sich eine neue Heimat suchen müssen.

Heute ist der 31. Januar 2044.

Ich bin alt, müde (als ob das etwas neues wäre).

Der Schlüssel?

Er steht irgendwo im Regal.

*

Gott ist mir schlecht. Mein Magen rebelliert mehr als alle kanadischen Dissidenten zusammen es jemals könnten. Das Essen scheint nach Vertilgung sofort wieder ans Tageslicht zu kommen - lediglich in der Wahl dre Körperausgangsöffnung scheint einige Unstimmigkeit zu herrschen.

Mein 99. Geburtstag - ein herrlicher Hummer.

Schlechter Hummer.

Böser Hummer.

Die Hälfte meiner Freunde (die wenigen, die noch am Leben waren, schliesslich bin ich nicht mehr der Jüngste) liegt im Krankenhaus.

Den Koch haben sie festgenommen - schliesslich befanden sich in meiner lustigen Runde sieben ehemalige Regierungschefs alter Nationalstaaten.

Ooooohhhhh....

Mein Blick fällt auf den Schlüssel. Der aus Harz gegossene Würfel ist brüchig geworden, man kann den Schlüssel kaum mehr sehen.

Scheiss drauf, sag ich mir, ich werde ihn sonst eh nicht mehr verwenden. Ich tapse zum Regal, nehme den Würfel, werfe ihn mit aller Kraft und dem Zorn einer viertägigen Lebensmittelvergiftung auf den Boden.

Der Würfel zersplittert sofort und legt den Inhalt frei.

Mit zitternden Händen greife ich zum Würfel.

'Eine Woche in die Vergangenheit.' Hauptsache keine Schmerzen mehr.

Nichts passiert.

Nichts.

Nichts.

Nichts.

Verdammt. Der Kerl hat mich verarscht.

Ich gehe zurück in mein Bett. Mein ganzes Leben... vergeudet. Der Würfel - ein schlechter Scherz.

Wenigstens scheint es meinem Magen besser zu gehen.

*

"Wir hatten nur diese eine Chance."

Die Stimme weckte mich aus meinem Schlaf - der ohnehin nicht fest war - trotz der Erschöpfung durch die Fischvergiftung.

Der Fremde sass vor dem Kamin. Ich erkannte ihn sofort.

Er war nicht gealtert.

"Also waren sie echt."

"Echt?" Die Frage schien ihn zu belustigen. "In dem Sinne das ich aus der Zukunft komme - ja."

Ich erhob mich aus meinem Bett und schlurfte an den Kamin. Ein Implantbefehl liess die Flammen auflodern und das Zimmer in ein unwirkliches, warmes Licht tauchen.

"Der eine Moment, der die Menschheitsgeschichte zum Guten wenden würde..."

"Korrekt." antwortete der Fremde, "Unser Gespräch vor neunzig Jahren. Ihre neue Menschheitsphilosophie. Die Vereinigung der Völker. Zweihundert Jahre früher - durch die Aufgabe die wir Ihnen gaben."

"Arschloch!" In meinem Alter neigte man dazu gewisse diplomatische Umwege auszulassen und direkt zum Punkt zu kommen. "Sie haben mir mein Leben versaut."

"Wirklich? Sie sind ein Held. Retter der Menschheit, Einiger der Streitenden, Ernährer der Hungernden."

"Hören Sie auf - mir wird ja noch schlechter als mir ohnehin schon ist." fluchte ich. "Bei der Gelegenheit - sie haben nicht zufällig in ihrer Zeit irgendwelche Wundermittel gegen Fischvergiftungen?"

Der Fremde lachte. "Doch. Leider führe ich meine Reiseapotheke nicht mit mir."

"Dann kommen sie morgen nochmal."

"Das wird nicht gehen." Der Fremde wurde ernst. "Das wird nicht gehen."

Ich begriff. "Dann... war es das?"

"Ja." Eine Pause. "Ich dachte nur... das wir ihnen eine Antwort schuldig waren."

"Ja. Das war das Mindeste." Ich musterte den Fremden genauer. Mir fiel eine rote Metallplakete am Revers der Jacke auf. "Ist das ihr Rangabzeichen? Sind sie beim Militär?"

"Nein... es ist mein persönlicher Geschmack." schmunzelte der Fremde. "Wir haben kein Militär mehr."

"Das hört sich...gut an."

Ich war müde. Schlafen.

*

"Meine Herren, sie hatten drei Monate Zeit, sich zum Thema 'Die eine Zeitreise' Gedanken zu machen. Hat jemand einen Vorschlag?" Der Professor blickte in die Runde. Um ihn herum sassen die vierzig besten Studenten des Zeitreise-Institutes. Seit der Entdeckung der Zeitreise waren sechzig Jahre vergangen - doch seit der Bestätigung, dass die Maschine funktionierte, hatten kaum Reisen stattgefunden. Zu gross war die Angst, das Erreichte zu verspielen.

Einige Erkundungen nur, um Unklarheiten in der Geschichte zu klären. Nichts Grosses. Atlantis, Athen, Alexandria, Shentang, Delhi.

Niemals ein Eingriff in die Geschichte der Menschheit.

Doch es war Tradition am Institut - und darüber hinaus an allen Lehrstätten für Geschichte - dass man den einen Zeitpunkt suchte, an dem alles besser wurde.

Interessanterweise war diese Tradition vor über dreihundert Jahren begründet worden - als das Prinzip der Zeitreise wissenschaftlich in keinster Weise erfassbar war. Der Begründer des ersten "Wettbewerbes" war kein geringerer als Levent Öztulca gewesen - der später der erste Präsident der Menschheit werden sollte.

"Ich hätte da ein Konzept!" meldete sich ein Student. Er war dem Professor mehrere Male aufgefallen - nicht unbedingt wegen grossartiger Leistungen - eher wegen der kitschigen, leicht militärisch anmutenden Metallplakette, die er stets an seine Jacke heftete.

 

 

 

Ende

 

Rod Andriz. Veröffentlichung nur nach erfolgter Einwilligung, andriz.de

 

 

 

 

 

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willkommen auf atlantis

Gibt es den einen Zeitpunkt in der Geschichte, durch dessen Beeinflussung wir alles zum Besseren hätten wenden können?

Alles Böse zieht auch Gutes nach sich - und umgekehrt. Auf Hitler folgte das vereinigte Europa, auf das finstere Mittelalter die Zeit der Aufklärung, des Humanismus, der Romantik.

Die Idee zu dieser Geschichte kam mir während der "Suche" nach dem einen richtigen Zeitpunkt und dem Gedanken das der Suchende selbst vielleicht Ziel anderer Suchender werden könnte..

© 2000 andriz&obens. vervielfältigung, egal welcher art, nur mit erfolgtem einverständnis.