Der Fremde legte eine Art Schlüssel vor mir
auf den Tisch.
"Dies ist ein Zeitschlüssel. Wenn Sie
diesen Schlüssel in die Hand nehmen, konzentrieren Sie sich
auf ein Datum und der Schlüssel bringt sie dorthin und - nach
sechsunddreissig Stunden - wieder zurück."
Ich starrte gebannt auf das eckige Stück Metall.
Ich glaubte dem Fremden - schliesslich hatte ich
ihn vor kaum vier Stunden aus einem brennenden UFO gerettet.
"Der Schlüssel," fuhr der Fremde
fort, "wird nur ein einziges Mal funktionieren. Und denken
sie gut über die Konsequenzen ihrer Zeitreise nach. Jede Handlung
bewirkt eine Veränderung der Zeitlinie - gute Absichten können
so schlimmste Folgen haben."
Eine Pause. Ich wusste einfach nicht was ich sagen
sollte. Dann doch eine Frage.
"Wie wird unsere Zukunft?"
"Sie wird gut." antwortete der Fremde
mit einem sanften Lächeln. Bevor er mein Haus verliess, drehte
er sich noch einmal um. "Danke."
Ein einziges Wort. Dann war der Fremde weg.
Ich starrte auf den Schlüssel.
Es war der 14. Dezember 1969. Ich war neun Jahre
alt.
*
Ich starrte auf den Schlüssel. Ich hatte ihn
in Kunstharz gegossen, um ihn zu schützen. Fast jeden Abend
verbrachte ich damit, die eine Chance, die mir der Fremde gegeben
hatte, richtig einzuschätzen.
Sollte ich in das Jahr 1920 zurück reisen
um Hitler einen Job als Maler in Wien zu verschaffen? Dann würde
er vielleicht nicht durchdrehen und Feuer über Europa säen.
Sollte ich die Geheimnisse der modernen Medizin
in das römische Reich tragen? Oder gar die Grundlagen der Chemie?
Schiesspulver gegen die Wandalen, um Rom zu schützen? Oder
sollte ich gar Rom vernichten bevor es in Korruption und Dekadenz
versank?
Es war der 23. November 1980. Und ich war ratlos.
*
Erschöpft klappte ich den schweren Wälzer
zu. Zum sicherlich einhunderttausendsten Male fiel mein Blick auf
den Schlüssel, der mittlerweile seinen Platz auf meinem Fernsehgerät
gefunden hatte.
Die Frage nach dem richtigen Zeitpunkt, nach dem
einen Ereignis das die Geschichte der Menschheit zum Besten wenden
konnte, hatte Besitz von meinem Leben ergriffen. Ich hatte mein
Abitur nachgeholt und angefangen Geschichte, Philosophie und Mathematik
zu studieren. Mein Ehrgeiz, meine Hingabe für hochkomplexe
Zusammenhänge zu erkennen und analysieren, hatte mir rasch
die Aufmerksamkeit einiger Dozenten zuteil werden lassen.
Es war der 31. August 1985.
Ich hatte noch genug Zeit.
*
Im Prinzip wusste ich ja, dass die Zukunft "gut"
werden würde - sofern ich dem Fremden glaubte. Und das tat
ich. Keinen Augenblick hatte ich an ihm gezweifelt.
Die UdSSR schlitterten in Afghanistan in ein Desaster,
in ihr eigenes Vietnam. Ich hatte in einigen Zeitungen vielbeachtete
Artikel über die Unausweichlichkeit des Zusammenbruches des
Ostblocks veröffentlicht. Doch das Urteil der Experten war
einhellig: Meine Schriften waren blanker Unsinn.
Es war mir egal. Ich hatte das eine Ziel
Nur - all die viele Geschichte, die ich in mich
aufgesogen hatte, bewies eines: Das Pendel schlug in beide Richtungen.
Kein positives Eingreifen blieb ohne negative Folgen. Nur - wo erzielte
man den höchsten Gewinn mit dem geringsten Verlust?
Die Sowjetunion, Europa, die Welt befand sich in
einer Art Umbruch. Sosehr ich darüber nachdachte die Geschichte
zu verändern wurde ich doch gewahr, dass ich mitten drin war
in Geschichte, hier, heute, jetzt gerade.
Es war der 14. Mai 1986. Ich war 26 Jahre alt,
hatte mein Geschichtsstudium mit Bestnote abgeschlossen.
Ich blieb an der Universität - sie war der
beste Ort meine Studien fortzuführen.
*
"...kann die Eskalation des Vietnam Konfliktes
nur verhindert werden, indem dem Präsidenten spätestens
im November 1964 überzeugendes Material vorgelegt wird, welches
ihm beweist - und zwar zweifelsfrei - in welche Katastrophe er sein
Land stürzt. Man müsste ihn also in die Zukunft 'einweihen'."
Ich seufzte. Natürlich hatte der junge Student
recht. Ich hatte, obwohl es nicht mein Fach war, einen Kurs für
"alternative Geschichte" im Institut für Politik
ins Leben gerufen. Wenn mir schon nichts einfiel, warum sollte ich
nicht ein paar rege Geister für mich Denken lassen?
Ich hatte mit einen guten Ruf erarbeitet - Washington
Post, Times, Spiegel und Hürryet druckten regelmässig
meine Essays und Abhandlungen, bei politischen Diskussionen war
ich gern gesehender Gast - egal bei welcher Partei, egal in welchem
Land. Meine "Prophezeiungen" bezüglich des Zusammenbruches
der Ostblock-Wirtschaft hatte mich darüber hinaus bekannt werden
lassen - sogar die Boulevard-Magazine zitierte gerne aus meinen
Reden.
Im Grunde war mir das egal.
Mein Ziel war ein anderes.
Der Schlüssel schien mich vorwurfsvoll anzublicken,
mich anklagend, ihn nicht angemessen einzusetzen.
Es war der 3. April 1994.
*
Es gab diese Momente, in denen mich die Unerreichbarkeit
meines Zieles in einen Zustand tiefer geistiger Erschöpfung
fallen liess. Dabei war es mir, als wenn mich der Schlüssel
höhnisch anblicken würde.
"Du schaffst es nicht weil Du nicht daran
glaubst" schien er mir zu sagen.
Schien.
Natürlich sagte der Schlüssel überhaupt
nichts - die Anklage war meine ureigene - ich war nahe daran zu
kapitulieren.
Und das Schlimmste daran war die Ungewissheit ob
die Kapitulation nicht vielleicht sogar der richtige Weg war.
Ich wandte mich meiner Post zu. Ailyah, meine Sekretärin,
sortierte die üblichen Beifallsbekundungen aus, dennoch wurde
der Stapel Briefe, die einer Antwort harrten, täglich höher.
Was ich sagte, was ich zu sagen hatte, es kam an
bei den Menschen. Seltsam - waren es doch nur die Lehren, zu denen
jeder kommen konnte der sich mit der Geschichte der Menschen beschäftigte.
Nun, ich hatte bekanntlich meinen eigenen Weg,
mich mit Geschichte zu befassen.
Meinen eigenen Grund.
"Du schaffst es nicht weil Du nicht daran
glaubst"
Es war der 16. Juli 2001. Ich würde noch einmal
in meine Mailbox schauen - meine Internetseite für alternative
Szenarien hatte regen Anklang gefunden - eine Quelle zwar für
Inspirationen - jedoch nicht für Antworten.
*
"Sie müssen einfach kandidieren."
"Zwölf Menschen sitzen in meinem Büro."
Ich sprach meine Gedanken laut aus, eine Angewohnheit, die ich mir
erst in den letzten Jahren zugelegt hatte. Ich hatte gemerkt das
mir die Leute besser zuhörten wenn sie dachten dass das Gesprochene
eigentlich nicht für ihre Ohren bestimmt war. "Zwölf
Menschen, die politische Elite des neuen Europas. Und diese zwölf
Menschen sind derart an die Grenzen des Machbaren gestossen, das
sie einen Kauz wie mich brauchen?"
"Es ist nicht der Kauz, den wir brauchen,"
antwortete Russo. "Wir brauchen den Europäer, den Menschen
den alle unsere Bürger respektieren."
"Sie benötigen ein Aushängeschild,
das Ihnen etwas mehr Zeit verschafft." Das Schweigen war Antwort
genug.
Die neue, erweiterte Europäische Union hatte
so viele Probleme, dass man, wenn sie eines Tages jemand in Scheisse
verwandeln könnte, damit alle Felder dieser Erde düngen
müsste um sie wegzuschaffen. Die grosse Reform, die Verschweissung
der europäischen Völker, Nationen, Kulturen, hatte die
dringend notwendigen "kleinen" Reformen so lange nach
hinten geschoben, bis es fast zu spät war. Während sich
Japan und China immer heftigere Schlachten lieferte und sich die
USA in ihrer neugewählten Isolation selbst beweihräucherten,
sassen also die zwölf Europaminister in meinem Büro und
erwarteten von mir ein Wunder.
Es war der 14. Juni 2011. Ich war so müde.
Wann sollte ich mich um den Schlüssel kümmern?
*
"Herr Generalsekretär?"
Ich trennte mich nur zu gerne vom Bericht "Neue
Konzepte der Energiegewinnung aus Meeresströmen".
"Ja, Janeta?"
"Die japanische Delegation wartet."
Die Japaner. Morgen die Chinesen. Beide Länder
hatten ihr wirtschaftliches Potential, ihren Wohlstand, ihre Zukunft
eingetauscht gegen einen Jahrzehntelangen Konflikt, ausgefochten
zwischen den beiden Staaten wie auch auf den Rücken der Vasallen
Taiwan, Vietnam, Laos, Indonesien. Korea hatte versucht seine eigenen
Karten auszuspielen - mit etwas Glück würden sie in dreihundert
Jahren die Radioaktivität in ihrem Land so gesenkt haben, dass
die Arbeiter nicht mehr im Dunkeln leuchteten.
Willkommen in den Armen der Vereinigten Völker.
Dem Zusammenschluss von 67 Nationen - inklusive
den paar Afrikanern, die AIDS und NES überlebt hatten.
Wo hatte ich nur den Schlüssel gelassen? Ach
ja... auf der Fensterbank.
Ich war so damit beschäftigt Geschichte zu
schreiben das ich die Möglichkeit, Geschichte nachträglich
zu beeinflussen fast vergessen hatte.
Ich wurde alt.
Heute schrieben wir den 2. Juni 2026. Es war mein
66. Geburtstag.
*
"Was beschwert sich der Mob eigentlich!"
Gerard zog vorsichtig den schweren Vorhang beiseite und begutachtete
ein paar Dutzend Demonstranten, die mit Trillerpfeifen bewaffnet
vor der Residenz ihre Runden drehten, Plakate schwenkend mit Aufschriften
wie "Erhaltet die Sahara!", "Die Wüste lebt!".
Besonders gefiel mir der Slogan "Sarah für Sahara".
Das Lebens-Projekt war ein Jahrhundertwerk - die
Urbarmachung von sieben Millionen Quadratkilometer Wüste in
Nordafrika, Arabien und Australien.
Natürlich gab es die Kehrseite - ich wusste
es am Besten. Es gab immer eine Kehrseite.
Immer.
Unvermeidbar.
Nichts Gutes ohne etwas schlechtes.
Einige Tausend Skorpione, Wüstenspringmäuse
und Kamele würde sich eine neue Heimat suchen müssen.
Heute ist der 31. Januar 2044.
Ich bin alt, müde (als ob das etwas neues
wäre).
Der Schlüssel?
Er steht irgendwo im Regal.
*
Gott ist mir schlecht. Mein Magen rebelliert mehr
als alle kanadischen Dissidenten zusammen es jemals könnten.
Das Essen scheint nach Vertilgung sofort wieder ans Tageslicht zu
kommen - lediglich in der Wahl dre Körperausgangsöffnung
scheint einige Unstimmigkeit zu herrschen.
Mein 99. Geburtstag - ein herrlicher Hummer.
Schlechter Hummer.
Böser Hummer.
Die Hälfte meiner Freunde (die wenigen, die
noch am Leben waren, schliesslich bin ich nicht mehr der Jüngste)
liegt im Krankenhaus.
Den Koch haben sie festgenommen - schliesslich
befanden sich in meiner lustigen Runde sieben ehemalige Regierungschefs
alter Nationalstaaten.
Ooooohhhhh....
Mein Blick fällt auf den Schlüssel. Der
aus Harz gegossene Würfel ist brüchig geworden, man kann
den Schlüssel kaum mehr sehen.
Scheiss drauf, sag ich mir, ich werde ihn sonst
eh nicht mehr verwenden. Ich tapse zum Regal, nehme den Würfel,
werfe ihn mit aller Kraft und dem Zorn einer viertägigen Lebensmittelvergiftung
auf den Boden.
Der Würfel zersplittert sofort und legt den
Inhalt frei.
Mit zitternden Händen greife ich zum Würfel.
'Eine Woche in die Vergangenheit.' Hauptsache keine
Schmerzen mehr.
Nichts passiert.
Nichts.
Nichts.
Nichts.
Verdammt. Der Kerl hat mich verarscht.
Ich gehe zurück in mein Bett. Mein ganzes
Leben... vergeudet. Der Würfel - ein schlechter Scherz.
Wenigstens scheint es meinem Magen besser zu gehen.
*
"Wir hatten nur diese eine Chance."
Die Stimme weckte mich aus meinem Schlaf - der
ohnehin nicht fest war - trotz der Erschöpfung durch die Fischvergiftung.
Der Fremde sass vor dem Kamin. Ich erkannte ihn
sofort.
Er war nicht gealtert.
"Also waren sie echt."
"Echt?" Die Frage schien ihn zu belustigen.
"In dem Sinne das ich aus der Zukunft komme - ja."
Ich erhob mich aus meinem Bett und schlurfte an
den Kamin. Ein Implantbefehl liess die Flammen auflodern und das
Zimmer in ein unwirkliches, warmes Licht tauchen.
"Der eine Moment, der die Menschheitsgeschichte
zum Guten wenden würde..."
"Korrekt." antwortete der Fremde, "Unser
Gespräch vor neunzig Jahren. Ihre neue Menschheitsphilosophie.
Die Vereinigung der Völker. Zweihundert Jahre früher -
durch die Aufgabe die wir Ihnen gaben."
"Arschloch!" In meinem Alter neigte man
dazu gewisse diplomatische Umwege auszulassen und direkt zum Punkt
zu kommen. "Sie haben mir mein Leben versaut."
"Wirklich? Sie sind ein Held. Retter der Menschheit,
Einiger der Streitenden, Ernährer der Hungernden."
"Hören Sie auf - mir wird ja noch schlechter
als mir ohnehin schon ist." fluchte ich. "Bei der Gelegenheit
- sie haben nicht zufällig in ihrer Zeit irgendwelche Wundermittel
gegen Fischvergiftungen?"
Der Fremde lachte. "Doch. Leider führe
ich meine Reiseapotheke nicht mit mir."
"Dann kommen sie morgen nochmal."
"Das wird nicht gehen." Der Fremde wurde
ernst. "Das wird nicht gehen."
Ich begriff. "Dann... war es das?"
"Ja." Eine Pause. "Ich dachte nur...
das wir ihnen eine Antwort schuldig waren."
"Ja. Das war das Mindeste." Ich musterte
den Fremden genauer. Mir fiel eine rote Metallplakete am Revers
der Jacke auf. "Ist das ihr Rangabzeichen? Sind sie beim Militär?"
"Nein... es ist mein persönlicher Geschmack."
schmunzelte der Fremde. "Wir haben kein Militär mehr."
"Das hört sich...gut an."
Ich war müde. Schlafen.
*
"Meine Herren, sie hatten drei Monate Zeit,
sich zum Thema 'Die eine Zeitreise' Gedanken zu machen. Hat jemand
einen Vorschlag?" Der Professor blickte in die Runde. Um ihn
herum sassen die vierzig besten Studenten des Zeitreise-Institutes.
Seit der Entdeckung der Zeitreise waren sechzig Jahre vergangen
- doch seit der Bestätigung, dass die Maschine funktionierte,
hatten kaum Reisen stattgefunden. Zu gross war die Angst, das Erreichte
zu verspielen.
Einige Erkundungen nur, um Unklarheiten in der
Geschichte zu klären. Nichts Grosses. Atlantis, Athen, Alexandria,
Shentang, Delhi.
Niemals ein Eingriff in die Geschichte der Menschheit.
Doch es war Tradition am Institut - und darüber
hinaus an allen Lehrstätten für Geschichte - dass man
den einen Zeitpunkt suchte, an dem alles besser wurde.
Interessanterweise war diese Tradition vor über
dreihundert Jahren begründet worden - als das Prinzip der Zeitreise
wissenschaftlich in keinster Weise erfassbar war. Der Begründer
des ersten "Wettbewerbes" war kein geringerer als Levent
Öztulca gewesen - der später der erste Präsident
der Menschheit werden sollte.
"Ich hätte da ein Konzept!" meldete
sich ein Student. Er war dem Professor mehrere Male aufgefallen
- nicht unbedingt wegen grossartiger Leistungen - eher wegen der
kitschigen, leicht militärisch anmutenden Metallplakette, die
er stets an seine Jacke heftete.
Ende
Rod Andriz. Veröffentlichung
nur nach erfolgter Einwilligung, andriz.de
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