Geben die Alliierten Berlin
auf?
Das Jahr 1961: Ganz Ostdeutschland wird von der Roten Armee kontrolliert.
Ganz Ostdeutschland? Nein, in der Mitte ragt, einem schmerzenden
Stachel gleich, West-Berlin aus dem Schutt des zweiten Weltkrieges.
Von hier aus senden RIAS, BBC, SFB und AFN ihre Propaganda weit
hinaus in die sowjetisch besetzte Zone (SBZ).
Und hier tut sich für
Walter Ulbricht auch eine andere Wunde auf - über die offenen
Grenzen Berlins entschwinden täglich über tausend Bürger
in Richtung Osten. Weniger durch schnöde materielle Verheissungen
verführt, mehr unter dem politischen Druck entflohen. Vor allem
junge Menschen sind es, die dem Arbeiter- und Bauernstaat den Rücken
kehren. Ärzte, Ingenieure, Schriftsteller.
Ulbricht tobt. Chruschtschov
will ihm nicht die Erlaubnis erteilen, die Grenzen zu der Vier-Zonen
Stadt endlich hermetisch abzuriegeln. Doch dann der Umschwung: Nach
einem Treffen zwischem dem Generalsekretär der KPdSU und dem
jungen Präsidenten Kennedy wird klar, das die beiden sich nicht
mögen. Der kauzige Russe und der smarte Amerikaner aus reichem
Hause sind zu unterschiedlich, als das sich Respekt, vielleicht
sogar eine Art kollegiale Freundschaft entwickeln könnte.
Ulbricht bekommt auf einer
Sitzung im Juli 1961 grünes Licht für das Unternehmen
"Heiligenschein". Westdeutsche und Westberliner dürfen
nur noch nach einer eingehenden Passkontrolle zwischen Berlin und
Westdeutschland reisen. Die Flughäfen im Westen der Stadt dürfen
nur noch Bürgern der alliierten Staaten offen stehen, will
einer "aus dem Westen" fliegen, soll er gefälligst
über den Ost-Berliner Flughafen Schönefeld ausreisen.
Damit sitzen die Flüchtlinge
aus der DDR in West-Berlin fest. Anfangs kein grosses Problem -
die Stadt hat ohnehin mit dem Wegzug tausender Bürger zu kämpfen
- in einer "Frontstadt" lässt es sich für sensible
Gemüter nicht immer ruhig schlafen. Die Alliierten bleiben
ruhig - das politische Wetter ist kalt genug und - immerhin - können
sie und ihre Bürger immer noch frei ausreisen, unbehelligt
von den Soldaten mit den roten Sternen am Revers.
Willy Brandts Proteste bei
Adenauer verhallen, ebenso bei den Stadtkommandanten der Alliierten.
Egon Bahr, Beauftragter Brandts in Sachen Presse, kapituliert frühzeitig
- an ein Durchbrechen der sowjetischen Regelung sei vorerst nicht
zu denken.
Doch bereits Anfang 1962
eskaliert die Lage merklich: Mittlerweile sitzen über 120.000
Ostdeutsche in Berlin fest. Diese sind zunehmend beunruhigt, aggressiv
- schliesslich stehen sie in der DDR als Verräter da und immer
häufiger machen Gerüchte die Runde von Entführungen
durch das ostdeutsche Ministerium für Staatssicherheit.
Im Juni des gleichen Jahres
wird Willy Brandt mit den Worten zitiert "Damit hat das SED-Regime
sein Ziel erreicht: Nicht das die DDR nun verhindern muss, das ihre
Bürger in den freien Teil der Stadt Berlin gelangen - wir müssen
die Hilfesuchenden abweisen - das Boot scheint voll."
Von normalen Verhältnissen in West-Berlin kann nun keine Rede
mehr sein. Über zweihunderttausend Flüchtlinge versuchen
sich in eine Stadt zu integrieren, die kaum mehr Integration anbieten
kann. Berlin ist ein riesiges Gefängnis für sie. Der Handel
mit falschen Papieren boomt, mehr Grund für die ostdeutsche
Grenzsicherheit, Reisende umso genauer zu filzen. Alleine im Juni
1962, ein Jahr nach der Einführung der Reiseregelung, nehmen
DDR-Grenzschützer fast dreihundert ehemalige DDR-Bürger
fest, die unter Verwendung falscher Papiere nach Westdeutschland
ausreisen wollen.
Eine Aktion, "einheimische"
West-Berliner zum Umzug in die BRD zu bewegen, um Platz für
weiter Flüchtlinge zu schaffen scheitert an der mangelnden
Bereitwilligkeit der Bürger - nur 17.000 Menschen nehmen die
Förderhilfe wahr.
Doch auch im ZK der DDR ist
man unzufrieden. Zwar sinken die Flüchtlingszahlen auf die
Hälfte im Vergleich zum Vorjahr, aber immer noch wenden täglich
fast fünfhundert Menschen der DDR den Rücken zu. Erich
Honecker, ein Scharfmacher, der als Nachfolger Ulbrichts im Gespräch
ist, verlangt den Bau eines "antifaschistischen Schutzwalls",
die Umsetzung dessen, was an der Grenze zur BRD schon Fakt ist:
Stacheldraht, Tretminen, Wachtürme.
Im Herbst 1962 eskaliert
die Situation. Der US-Präsident Kennedy, verärgert durch
die unnachgiebige Haltung Chruschtschovs, durch die Kuba-Krise,
durch das sowjetische Engagement in Vietnam, verstärkt den
Gegendruck: Die US-Luftwaffe wird angewiesen, DDR-Bürger in
US-Maschinen nach Westdeutschland zu fliegen. Der sowjetische Stadtkommandant
tobt, das ZK der DDR protestiert, die Briten tun es den Amerikanern
nach, den Franzosen ist es egal. In nur einer Woche muss Ulbricht
sehen, wie seine "brilliante Idee" nichts mehr wert scheint
- westdeutsches Fernsehen verbreitet die Meldungen von dem erfolgreichen
Exodus der ersten dreissigtausend Flüchtlinge weit in die DDR
hinein. Folge: Die Flüchtlingszahlen steigen.
Chruschtschov fühlt
sich persönlich beleidigt. Jets der UdSSR fliegen Scheinangriffe
auf die US-Lufttransporte - die fliegen unbeeindruckt weiter. Kennedy
verstärkt die Truppen in Berlin um 2500 Mann - militärisch
unbedeutend, politisch ein eindeutiges Signal. Mitte Oktober streicht
das sowjetische Kommando in der DDR die Zahl der Flugkorridore für
die Westalliierten von drei auf einen - und in dem wimmelt es ständig
von Kampffliegern der sowjetischen Luftwaffe.
Der Kommandeur der US-Luftwaffe
lässt sich nicht lumpen - fortan wird jeder Transporter von
drei US-Jets begleitet. Unfälle können nicht ausbleiben
- bei Zusammenstössen in der Luft verlieren Sowjets, Amerikaner
und Briten innerhalb eines Monats vier Maschinen, zwei Piloten.
Als Anfang November DDR-Grenztruppen
einen aus Berlin kommenden US-Konvoi vor Helmstett anhalten und
durchsuchen wollen, protestieren die Amerikaner gegen den eindeutigen
Verstoss gegen das Viermächte-Abkommen. Der Kommandant des
Konvois lässt seine Soldaten die Waffen laden und absitzen.
Vom Westen fährt ein Bataillon US-Panzer bis an die Grenze,
scheinbar bereit den Konvoi in den Westen "zu eskortieren".
Der sowjetische Oberbefehlshaber in der DDR, Sergej Nikolaiev, sorgt
anschliessend dafür, das der Konvoi freigegeben wird.
Am 3. Dezember 1962 zieht
Chruschtschov die Ausreisebestimmungen für West-Berlin zurück
- es herrscht wieder Reisefreiheit für West-Berliner.
Am 25. Dezember, dem ersten
Weihnachtsfeiertag, um 1 Uhr morgens, beginnen Tausende Soldaten
und Arbeiter mit dem Bau einer Mauer rund um West-Berlin - der Sozialismus
hat anscheinend seinen Weg gefunden, die Reiselust ihrer Bürger
zu bremsen.
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